Skandal, Trost, Transparenz
Programmhefttext/Werkeinführung für ein Konzert des KlangForum Heidelberg mit Werken von Anton Webern (6 Orchesterstücke op. 6, Kammerfassung vom Komponisten) und Johannes Brahms (Ein deutsches Requiem op. 45 nach Worten der Heiligen Schrift, Fassung für Chor und Kammerensemble, Hannover 2012) beim Heidelberger Frühling, 10. April 2024
Der tröstende Brahms lässt sich konkreter fassen in der besonderen Eindringlichkeit, mit der er Zeit, also Vergänglichkeit, vergegenwärtigt; seine Musik reflektiert die Problematik von Zeitgefühl und Zeitbewusstsein tiefer und stärker als irgendeine neben ihr.
(Peter Gülke 1989)
Aufführungspraxis (und mit ihr die genaue Besetzung, die Zusammenstellung von Stimmen und Orchester für eine Aufführung) unterliegt stetem Wandel. Sie kann von Traditionsverlust ebenso geprägt sein wie von Erkenntnisgewinn oder Anwendung neuer, etwa historisch-kritischer Methoden.
Auch die Praxis des von Arnold Schönberg und Schülern 1919 in Wien gegründeten „Vereins für musikalische Privataufführungen“ wollte und sollte als praktische Konsequenz aus den Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen seiner Zeit gesehen werden.
Dort wie auch heute, bei der Aufführung von Anton Weberns 1920 für diesen Verein bearbeiteten Kammerfassung seiner ursprünglich groß besetzten Sechs Orchesterstücke op.6 mehr als hundert Jahre später und zusammen mit einer neuen, „in Geist und Tradition“ der Wiener Privatvereinspraxis entstandenen Bearbeitung von Brahms‘ Deutschem Requiem, kann es nicht um den einen Originalklang gehen (oder den anderen, noch originaleren) – wohl aber um eine möglichst große oder getreue Annäherung aufgrund historischer Kenntnis und Rekonstruktion der Aufführungspraxis zur Entstehungszeit dieser Werke. Der Aufführungspraxis, wohlgemerkt: „Klang“ ist dabei nur eine vordergründige, oft fetischisierte Eigenschaft. Wesentlicher aber (und den Interpreten der heutigen Aufführung wichtiger) ist für jede Originaltreue das genaue Verhältnis von Notation und Lesarten, Phrasierung und Rhetorik, Artikulation und Ausdruck, Tongebung und Bedeutung – nur führt solches Aufzählen von Begriffspaaren nicht notwendig zum musikalischen Ziel, und keine historisch-kritische Methode dürfte sich (entgegen der von Gustav Mahler kolportierten, wohl polemischen Bezeichnung von Tradition als Schlamperei) in der Ablehnung oder Konservierung starrer Traditionen erschöpfen.
„Jede Notation ist schon Transkription eines abstraken Einfalls“, schrieb Ferruccio Busoni 1906 bewusst paradox – denn als Komponist, Bearbeiter und Interpret höchsten Ranges wusste er genau um die Doppelbödigkeit solcher (vermeintlichen) Relativierung: Entscheidend war ihm hier wie dort, bei Lektüre, Spiel, Gesang „originaler“ wie „bearbeiteter“ Notation, das Wissen und Mitwissen um ihr Verhältnis zueinander. Und die Gewissheit, dass „jede Übersetzung … ein Verrat am Original“ ist – wie später, anlässlich eines Konzerts des KlangForum Heidelberg beim Heidelberger Frühling 2022, der Philosoph Enno Rudolph seinen Kollegen Helmut Plessner zitieren sollte.
Dass zu Brahms‘ Zeiten von Streichern wie von Sängern, männlich wie weiblich und solistisch wie im Ensemble, ebenso wenig und schon gar nicht standardisiert vibriert wurde und kaum anders als wohldosiert und ornamental, steht nie in den Noten selbst. Und doch gehört es nicht ins Mythenreich höherer, „nicht notierbarer“ künstlerischer Wahrheit. Vielmehr erschließt es sich aus historischer Erforschung und aus sinnlicher Wahrnehmung früher Tondokumente ebenso unmittelbar wie aus Brahms‘ brieflichem Austausch mit dem engen Freund Joseph Joachim, einem führenden Violinpädagogen und Aufführungspraktiker seiner Zeit. Ähnliches gilt für agogische Freiheiten, ungleichförmige Metrik oder das ungleichzeitige Arpeggieren von Akkorden. All solche später neusachlich wegrationalisierte Praxis ist nicht Beiwerk, sondern Herz aller Brahms-Interpretation – und wenn eine scheinbar anachronistische Bearbeitung seiner Musik historisch angemessene „kammermusikalische“ Spielweise noch begünstigt, umso besser!
Walter Nußbaum schreibt über die 2012 in seiner Dirigierklasse (und durch die Arbeit an Werken Schönbergs und Zemlinskys) angeregte Fassung des Deutschen Requiems,
„die kammermusikalische Besetzung (gebe) unter Umständen durchaus andere Möglichkeiten als ein Orchesterapparat. Farbklänge, differenzierte Agogik, herausgearbeitete Artikulationen, alles, was Kammermusik bietet, kann hier realisiert werden, mit einer unglaublichen Flexibilität. Von vornherein wurden auch die Originalpartitur und das Autograph in die Arbeit einbezogen, … viele Details wurden an Brahms‘ Erstdruck und an dem Autograph gemessen und geprüft.“
Aufführungspraxis als kritische Arbeit bedarf der Philologie, aber nichts ist ihr so fern wie graue Theorie. Anton Webern, selbst promovierter Musikwissenschaftler, galt als führender Interpret der Neuen wie der Alten Musik im Wien der 1920er und 30er Jahre, sowohl mit Profis als auch mit Arbeiterchören und Laienmusikvereinigungen. „Von Natur aus“ berufener Musikvermittler, führte er neben klassischem (und klassisch klassenkämpferischem) Repertoire anspruchsvolle Chorwerke seines Lehrers und Mentors Schönberg ebenso zur Begeisterung von Publikum, Mitwirkenden und professionellen Kollegen auf wie Mahlers monumentale Achte Sinfonie – und wie selbstverständlich 1931 auch Brahms‘ Deutsches Requiem.
Neben der Schlüsselfunktion von Brahms‘ kompositorischer Ökonomie für die Zweite Wiener Schule überhaupt mag auch ein innerer Bezug das Werk für Webern bedeutsam gemacht haben: So wie Brahms, der in Gedanken an seine verstorbene Mutter den 5. Satz mit dem Sopransolo über die Traurigkeit in das am Karfreitag (dem 10. April!) 1868 bereits sechssätzig uraufgeführte Werk einfügt hatte, bezieht Anton Webern sein nahezu gesamtes Komponieren zur Zeit der Orchesterstücke um 1909 auf ein vergleichbares „Erlebnis“ nämlich,“den Tod meiner Mutter. Vor sechs Jahren ist sie gestorben …“, schreibt er 1912 an Alban Berg. Und gegenüber seinem Lehrer Arnold Schönberg, 1913 Dirigent der Uraufführung der Sechs Stücke, äußert er brieflich ganz explizit:
„Das erste Stück will meine Stimmung ausdrücken, als ich noch in Wien war, bereits das Unglück ahnend, aber doch noch immer hoffend, die Mutter lebend anzutreffen. Es war ein schöner Tag, eine Minute lang glaubte ich ganz sicher, es sei nichts geschehen. Erst auf der Fahrt nach Kärnten, es war der nämliche Tag, am Nachmittag, erfuhr ich die Tatsache. Das 3. Stück ist der Eindruck des Duftes der Eriken, die ich an einer für mich sehr bedeutungsvollen Stelle im Wald pflückte und auf die Bahre legte. Das vierte Stück habe ich nachträglich marcia funebre überschrieben. Noch heute verstehe ich nicht meine Empfindung, als ich hinter dem Sarge zum Friedhof gieng. Ich weiß nur, daß ich den ganzen Weg hoch aufgerichtet gieng, vielleicht um im weiten Umkreis alles Niedrige zurückzubannen.“
Aufschlussreicher aber, und radikaler als solch sublimierte Programmatik scheint heute Weberns Feststellung von 1928, anlässlich einer weiteren Neufassung oder Übersetzung für großes Orchester:
„Ein thematischer Zusammenhang besteht nicht, auch nicht innerhalb der einzelnen Stücke. Diesen nicht zu geben, war sogar bewußt angestrebt: in dem Bemühen nach immerfort verändertem Ausdrucke (…)“
Alles Hintergrundwissen zu Versionen und Fassungen wäre unbedeutend, hörte man nicht bei sinnlicher Wahrnehmung der Stücke ihre bis dahin unerhörteste Eigenschaft, nämlich ihre Kürze und ihre Konzentriertheit. Das ist ihre Sprengkraft, und nicht zufällig wird ihre Wiener Uraufführung 1913 bis heute als „Skandalkonzert“ bezeichnet.
Aber wissen wir, ob sie skandalöser war als ein von aller Liturgie befreites, protestantisch und humanistisches Requiem, schlicht „nach Worten der Heiligen Schrift“ komponiert (Brahms) und ohne Jesus, Amen und den Zorn eines Dies irae – stattdessen voller Trauer, Trost und „Gedanken an die Mutter“?
(J. Marc Reichow)