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Programmhefttext Mahler [Mai 2023]

 

   

子曰:「邦有道,危言危行:邦無道,危行言孫」

    Der Meister sprach: «Wenn im Lande der rechte Weg waltet, dann seien die Worte wagemutig und die Taten wagemutig; wenn im Lande der rechte Weg nicht waltet, dann seien die Taten wagemutig, aber die Worte zahm.»
    (Konfuzius, 551-479)
 

Als das ensemble aisthesis, damals bereits so genannt, zum Abschluss des V. Neuenheimer Musiksommers unter Leitung seines Gründers Walter Nußbaum die Kammerfassung von Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ aufführte [2], stand nicht nur diese – zu jeder Zeit ambitionierte – Unternehmung selbst unter anderen Vorzeichen, auch die weitere und selbst die globale Perspektive haben sich seitdem geändert. Ob geweitet, wäre die heute zu untersuchende Frage; vielleicht gelingt uns eine klangliche und aisthetische Antwort, mit den Sinnen gedacht: dafür treffen wir uns hier.

Am hintersten Rand dieser Fragestellung wäre, am Rande des Toblacher Sees  in seinem Komponierhäuschen [3] Gustav Mahler zu sehen, im Sommer 1908 geflüchtet vor den beruflichen Abgründen der Hofopernintendanz und -intrigen, aber auch dem Schicksal des Kindstods einer Tochter im vorigen Komponierdomizil, und in Furcht vor der (für jeden Komponisten) ominösen Neunten (Sinfonie), seinen Blick stattdessen in die Ferne nicht nur der Dolomitengipfel sondern die Weiten eines imaginären China gerichtet, das ihn seit einiger Zeit fasziniert – genauer: seit der befreundete Hofrat Dr. Theobald Pollak der Familie Mahler Hans Bethges Die chinesische Flöte geschenkt hat, ein Exemplar der 1907 erstmals erschienenen Sammlung von Nachdichtungen chinesischer Lyrik der T’ang-Dynastie. Nachdichtungen lange nach französischen Übersetzungen zumeist…

(Der populäre Lyrikband von Bethge (1876-1946), Schmuckstück einer exotistisch-literarischen Chinamode, wird auch andere Komponisten wie Anton Webern und Arnold Schönberg zu Vertonungen anregen; die singuläre Bedeutung Mahlers für seine Rezeption aber kommt in Bethges Nachfolgeband Pfirsichblüten aus China 1925 zum Ausdruck, den der Nachdichter-Autor „Gustav Mahler / dem Schöpfer des / Liedes von der Erde / zum Gedächtnis“ widmet.)

Das „Lied von der Erde“, uraufgeführt erst 6 Monate nach Gustav Mahlers Tod, im November 1911 in München, ist beispielloses Gipfelwerk einer Gattung, von Mahler zunächst „Symphonie für eine Tenor- und eine Altstimme“ genannt, aber gleichzeitig Schlüsselwerk der frühen Moderne, von prägender Bedeutung für die Komponisten der Zweiten Wiener Schule ebenso wie für namentlich Dimitri Schostakowitsch.

Am anderen Rande – wenn auch nicht am Ende – der Geschichte klingt dieses Lied in die Gegenwart der heutigen Aufführungssituation hinein, ragt über sie hinaus und findet sich im Umfeld von Diskussionen über Globalisierung, Postkolonialismus und geostrategische Zusammenhänge, untermalt (oder unterläuft) Fragen einer Neuen Weltordnung im Zusammenhang mit jahrhundertealten philosophischen Anschauungen (etwa konfuzianischer Zeit), die nun Gegenstand machtpolitischer Instrumentalisierung und Umdeutung [4] geworden sind.

Immer wieder, und mehrfach in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Barbara Mittler vom Heidelberger [Centrum für Asienwissenschaften und Transkulturelle Studien] (CATS) und Dr. Petra Thiel vom Konfuzius-Institut an der Universität Heidelberg, hat das KlangForum Heidelberg eigene Veranstaltungen den künstlerischen und gesellschaftlichen Aspekten und Schwierigkeiten dieser Fragen gewidmet, auch der aktualitätsbezogene Ansatz der heute zum ersten Mal erklingenden Intermezzi zu Mahlers „Lied von der Erde“ in Ying Wangs Auftragskomposition „Of Detours and Updates“ stehen in der Tradition und folgen der Programmaxime, „alter“ Musik in der gegenseitigen Durchdringung mit nie Gehörtem zu aktueller Wirksamkeit zu verhelfen.

Eine ähnliche, wenn auch noch ausschließlicher auf das aus ökonomischer Not unterrepräsentierte Schaffen der Gegenwarte gerichtete Strategie übrigens verfolgte seit seiner Gründung durch Arnold Schönberg und einige seiner Schüler 1918 der Wiener Verein für musikalische Privataufführungen, dessen Aktivitäten sich u.a. die Bearbeitung und Hörbarmachung zahlreicher Werke der damals zeitgenössischen Musik verdankt. Die von Schönberg noch vor Auflösung des Vereins 1921 begonnene sog. Kammerfassung des „Liedes von der der Erde“ gehört in diesen Zusammenhang. –

Auch in aller Unschuld – nämlich der der Sängerin und des Sängers, des Musikers und der Musikerin – und auch in objektivierter, gesellschafts-, kultur- und politikwissenschaftlicher Perspektive blicken und hören „wir heute“ anders auf Mahlers große Vokalsinfonie als „vor dreißig Jahren“: die Welt oder „die Erde“ hat sich längst als System globaler Abhängigkeiten erwiesen, die sich ebenso in grenzenloser Kommunikation und Sprachstrategien wie in Schweigestrategien, in Protest- und Zensurtechniken ausdrücken – und für welche die individualisierte Weltsicht des vereinzelten Menschen, wie sie bei Mahler und seinen beiden Protagonisten zum Ausdruck kommt, ferner liegen mag denn je.

Oder scheinen am Ende Vereinsamung und „Abschied“ von der Welt genauso als Auswege an, auf unserem Weg in eine ökologischen Globalkatastrophe, in der „die Erde“ nach Millionen anderer Arten zum ersten Mal für jene Spezies unbewohnbar zu werden droht, die es besser wissen müsste? Um nicht zu sagen: besser machen.

Dass diese Erde „lange still feststeh’n und aufblüh’n“ werde, bleibt als Idee verheißungsvoll. Hörbare Ahnung wird sie Mahler wie bei Ying Wang, doch erleben werden wir es kaum.

Ihr [Für das] KlangForum Heidelberg [5]  

 
 

[1] Kapitel 14.3., aus: Konfuzius: Gespräche, neu übs. und erläutert von Hans van Ess, München 2023 [Mit Dank an Dr. Petra Thiel, Prof. Dr. Barbara Mittler, Prof. Dr. Hans van Ess für die Übersetzungsklärung / Quellenrekonstruktion eines obskuren Kalenderblattes]

[2] am 4. und 5. Juli 1992 in einem „Tröstung“ genannten Konzert in der Johanneskirche Heidelberg-Neuenheim, bezeichnenderweise umrahmt von Helmut Lachenmanns Consolation II für 16 Stimmen von 1968; die Schönberg’sche Kammerfassung des „Lied von der Erde“ war erst vier Jahre vorher von Rainer Riehn „vollendet“ bzw. weitergeführt worden.

[3] heute in der Euregio des italienischen Südtirol

[4] vgl. etwa das [neokonfuzianistische] Tianxia-Konzept des chinesischen Philosophen ZHAO Tingyang, „Alles unter dem Himmel – Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“, China 2016 / dt. zuerst Frankfurt 2020

[5] Vorwort zum Programmheft DAS LIED VON DER ERDE – Konfuzius und die neue Weltordnung II des KlangForum Heidelberg, 13./14. Mai 2023